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November

Tobi
  • Okt. 20, 2025

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magzin magzin

Der November war da, scheu hinter Herbststürmen, die den Himmel in mattes Grau tauchten. Die Straßen rochen nach feuchter Erde und alten Blättern, die sich wie flüßige Goldfäden am Boden sammelten. In einer kleinen Stadt, zwischen dampfenden Fenstern und rauchigen Schornsteinen, stand ein alter Buchladen, der mehr Geschichten atmete als die Luft um ihn herum.

Mara, eine junge Bibliothekarin mit einer Vorliebe für vergessene Worte, schlich sich jeden Abend hinein, wenn die Uhr am Turm zwölfmal schlug. Sie wusste, dass November die Monate in zwei Hälften zerteilte: Die erste, noch warm von Herbstlicht, die zweite, kühler, fast lernend, wie man Geduld übt. In einer Ecke des Ladens lag ein Buch ohne Titel, gebunden in staubiges Leder, die Seiten voller gedrückter Augenblicke, als ob jemand die Zeit in Blättern festhalten wollte.

Heimlich öffnete Mara das Buch und las die ersten Zeilen: Ein Brief, der nie abgeschickt wurde, an eine Person, die längst weitergezogen war. Je mehr sie las, desto leiser pochte ihr Herz, als würde das Papier selbst atmen. Die Worte beschrieben eine Reise durch novemberliche Landschaften — Nebel, der sich wie ein Hauch aus Zuckerwatte über Felder schmiegte; Laternen, deren warmes Licht Tropfen von Kälte in goldene Wänge verwandelte; Straßenmusikanten, deren Melodien Erinnerungen weiteten, die längst in den Schuhen der Menschen begraben schienen.

Draußen zog der Wind feine Streifen aus Regen. Mara stellte sich ans Fenster, betrachtete die Spiegelung der Stadt auf der nassen Pracht der Straßen. In dem Moment verstand sie, dass November mehr als nur ein Übergang war: Es war ein Zwischenraum, in dem Wünsche und Abschiede gleichzeitig geboren wurden. Sie fühlte eine leise Entschlossenheit, die Seiten zu vervollständigen, das unsichtbare Briefpapier zu finden, auf das der ungesendete Brief vielleicht geschrieben war.

Am nächsten Abend legte sie das Buch behutsam zurück an seinen stillen Platz. Doch bevor sie ging, klang hinter ihnen ein leises Rascheln wie eine bestätigende Stimme aus dem Regal: Vielleicht war jeder November eine Einladung, die Geschichten weiterzuschreiben, die noch nicht fertig waren. Und so atmete der Buchladen tiefer, als der Wind draußen stärker wurde, als ob er die vergessenen Worte wiederfinden wollte, damit sie erneut geboren werden konnten.

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